Ich weiß, was du meinst. Und es ist legitim, dass du es erwähnst. Aber ich hab mein ganzes Leben lang gehört: Jammer nicht rum, anderen geht es viel schlechter. Das stimmt auch, keine Frage. Aber diese Einstellung hat einen Haken: Man überspielt und übersieht, wenn es einem selbst wirklich mal schlecht geht. Und dann ergreift man keine geeigneten Gegenmaßnahmen und wird wirklich krank. Dann verlieren auch wir beide: der Obdachlose pennt weiterhin auf dem Fußweg und ich starre depressiv nur noch die Wand an, obwohl ich mich um ne Familie kümmern sollte.
Es hilft dem Typ auf deinem Bild auch nicht weiter, wenn ich mich nicht mehr beschwere. Null. Im Gegenteil: Wenn es mir als "Mittelständler" gutgeht, ist viel mehr Gelegenheit, den armen Schweinen mit meinem Geld und meiner Arbeit zu helfen.
Kleine Anekdote von letzter Woche nebenbei: Wenn ich reise, penne ich ja in den unterschiedlichsten Unterkünften. Letzte Woche war das ein Wohnblock in einer ostdeutschen Kleinstadt. Wir sind so rein und es roch extrem beißend nach Pisse. Im dritten Stock schaute ich dann so das Treppengeländer runter und bemerkte, dass irgendjemand sich vor mir verstecken wollte. Ich also mit nem Sicherungsmann wieder runter und festgestellt, dass vor der Kellertür ein etwa 60-jähriger Alki sich eingenistet hatte. Sein Bein sah komisch verdreht aus, aber er war recht klar bei Sinnen. Einerseits hatte ich keinen Bock, dass der bei den Temperaturen in nem Wohnblock ein Feuer anzündet oder in die Ecke scheißt (raus kann er ja nicht, weil er sonst nicht wieder ins Warme kommt), andererseits hatte ich auch mega Mitleid mit der armen Sau. Ich ihn also angesprochen und er meinte, dass sämtliche Sozialstationen wegen Corona nur noch einen Bruchteil der Leute aufnehmen können und er ganz einfach zu spät kam. Muss man sich mal vorstellen: Mitten in Deutschland suchen Leute ab 14 Uhr ihren Schlafplatz - und wenn sie zu spät kommen, legen sie sich vor ne Kellertür in nem fremden Haus. Immer im Leichtschlaf, um auf Feinde achten zu können. Ich dann erstmal alle Sozialstationen abtelefoniert, aber 20 Uhr war nix mehr zu machen. Ich hätte ihn noch vom RTW ins Krankenhaus bringen lassen können, aber die schmeißen die Leute ohne Krankenkarte auch wieder raus. Sowas musste ich schonmal verantworten, das mach ich nicht wieder. Was blieb mir also anderes übrig - hab ihn da pennen lassen und er musste mir versprechen, nicht vor die Kellertür zu kacken. Sowas sagt man nem 60-jährigen, woraufhin der betroffen auf den Boden blickt und verspricht: "Ehrenwort, Sie können sich auf mich verlassen." - und sich danach mit seinem gebrochenen Bein wieder auf die alte Decke legt. "Hab´s hier doch warm."
Ich bin vor den Spezialeinheiten ein paar Jahre Streife gefahren - und genau das Elend war der Grund, warum ich damit nicht weitermachen konnte. Ich hab wirklich mein Bestes getan, aber Bürokratie, Drogen, Hass, Dummheit und diese unsäglich ängstlichen Jugendämter waren einfach zu stark. Es ist dermaßen unglaublich, was ein westeuropäischer Sozialstaat zulässt, dass ich vor der Situation fliehen musste, um nicht zu verzweifeln. Ich habe damals (und mache es auch heute noch, aber nicht mehr so regelmäßig) mit aller Kraft gegen Windmühlen gekämpft - und meistens verloren. Paar Mal habe ich kurzfristig gewonnen, aber der Sieg wurde mir von den Drogen und der Perspektivlosigkeit wieder weggenommen. In vielleicht 5% der Fälle konnte ich tatsächlich nachhaltig was machen. Aber für diese mickrige Ausbeute musste ich all meine Kraft, die ich hatte, hergeben. Und das war irgendwann zu viel. Man kommt nicht hinterher, selbst wenn viele andere mithelfen. Die Welt ist vieles - aber sie ist eines ganz bestimmt nicht: und zwar gerecht.
Nach all den Jahren des Kämpfens, des Mitgefühls, der Hingabe und des Durchhaltens nehme ich mir jetzt das Recht heraus und gebe zu, dass es mir im Corona-Lockdown nicht gutgeht. Meine Gegenmaßnahmen sind weder Arztbesuche, noch Medikamente oder sonstwas. Ich geh einfach nur Laufen, weil mir das guttut. Ich stehe weiterhin früh auf, gehe arbeiten, kümmer mich um alles, helfe Freunden und Fremden und trainiere weiterhin. Ich gebe nicht auf oder lass mich hängen - ich treffe einfach nur Maßnahmen, dass es mir bessergeht.
Wie kann man nur so viel erlebt haben wie du?
Ich find es traurig, dass wir in einer scheinbar so aufgeschlossenen und "gerechten" Welt leben, aber es eigentlich (sogar in einem Sozialstaat wie Deutschland) immer noch Menschen gibt die unter Menschenunwürdigen Verhältnissen leben (müssen).
Und dass dagegen einfach nichts gemacht werden kann?! Jemand wie du, der versucht zu helfen wird dann noch solange schikaniert, bis er es aufgibt. Das macht mich so wütend wenn ich sowas lese.