Echte Exotik: Fitness durch Cricket

Echte Exotik: Fitness durch Cricket

Der einzige Sport mit Teepause


Es soll ja Menschen geben, die beim Fußball die Abseitsregel nicht verstehen. Denen ein begabter Geist dann mit Streichholzschachteln auf dem Kneipentisch die Situation verbildlichen muss, denen man in Engelsgeduld vielleicht noch den Sonderfall "passives Abseits" erklärt - und die dann trotzdem im Stadion nicht verstehen, warum der Schiedsrichter pfeift. Wer hingegen einem Laien erklären will, wie Cricket funktioniert, braucht die pädagogischen Fähigkeiten eines Physiklehrers, der eher musisch begabten Schülern die Quantenmechanik nahebringen will. Denn das Spiel, bei dem beide Mannschaften in Weiß antreten und so auf den ersten Blick ununterscheidbar sind, hat ein Regelwerk, das mit "verzwickt" und "undurchschaubar" noch freundlich beschrieben ist.


Das jahrhundertealte Spiel ist vor allem in den Ländern des Commonwealth beliebt. Während die "Batsmen" und "Bowler" in Deutschland einer exotischen Randsportart zugeordnet werden, ist der Sport in Ländern wie Großbritannien und Australien sehr populär, in Pakistan und Indien sind die Top-Spieler ungefähr so berühmt wie Madonna oder Tom Cruise. Angeblich wurde schon um das Jahr 1300 in der englischen Grafschaft eine Urform von Cricket gespielt, im Jahr 1900 war der Sport das erste und letzte Mal bei Olympia dabei.




In der Halbzeit eine Tasse "Earl Grey"?


Cricket ist wahrscheinlich die einzige Sportart, bei der es eine offizielle Teepause gibt - doch auch ansonsten ist das Traditionsspiel ein Sammelsurium von Absonderlichkeiten. Ein sogenanntes "Test Cricket"-Match zwischen Nationalmannschaften zieht sich über volle fünf Tage hin, beim "One-Day-Cricket" hingegen - unter anderem wegen der Begehrlichkeiten des Fernsehens nach einem dynamischeren Verlauf in den 1960er Jahren eingeführt - kann noch vor Sonnenuntergang ein Sieger ermittelt werden. Von Traditionalisten freilich wird diese Sonderform strikt abgelehnt, wegen der bunten Spielkleidung bei dieser Variante als "Pyjama-Cricket" verhöhnt.


Grob gesagt geht es bei allen Cricketformen um folgendes: ein Bowler von Mannschaft 1 (im traditionellen Cricket erkennbar an der weißen Spielkleidung) wirft einen kleinen Ball mit einer ganz bestimmten (unvoreingenommene Beobachter würden sagen: skurrilen) Technik zu einem sogenannten "Wicket", einem Gebilde aus Holzstäben. Die gegnerische Mannschaft hingegen stellt zwei "Batsmen" (erkennbar an der ebenso weißen Spielkleidung) vor die Wickets, die den Ball mit einem Schläger zu treffen und wegzuschlagen versuchen. Gelingt das, rennen sie hin und her und machen so Punkte. Ein bisschen wie bei der Grundschulsportart Brennball also, aber eben nur ein bisschen. Wer Spaß am Zuschauen haben will, braucht Geduld: ein Team bowlt und das andere steht um die mit Schlägern und Schutzausrüstung bewehrten Batsmen herum. Und wartet und wartet und wartet. Nach fünf Tagen ist das Spiel dann vorbei.




Fitness für den entscheidenden Moment


Fitness braucht man aber trotzdem. Selbst junge Nachwuchsspieler müssen topfit sein. "Die MCC Young Cricketers trainieren jeden Tag mindestens zwei Stunden", berichtet der Cheftrainer des "Marylebone Cricket Club" (MCC) in London, dem wichtigsten und einflussreichsten Cricket-Club der Welt. Die Spielstätte "Lord's Cricket Ground" gilt als die traditionsreichste Adresse im Cricketuniversum, der Platz in St. John's Wood ist DAS Mekka für jeden Fan. Radley, der selbst erfolgreicher Spieler war, weiß, dass es auch bei einem Spiel, das über weite Strecken eher wenig dynamisch ist, auf körperliche Fitness ankommt. Die Spieler des MCC üben das Bowlen und das Batten, trainieren die Kondition, werden von Ernährungsberatern betreut. "Cricket wird immer mehr zu einem Leistungssport, ein Spieler muss über eine sehr gute Ausdauer verfügen - pyhsisch wie mental", erklärt Radley. Denn auch wenn ein großer Teil der Mannschaft über weite Strecken des Spiels weitgehend bewegungslos auf dem Platz steht: die Spannung muss immer stimmen. "Die Spieler verbringen pro Tag etwa sieben Stunden auf dem Feld", erklärt Radley, "da muss man nonstop konzentriert und geistesgegenwärtig sein."


Wer sich als Deutscher für das Spiel, das Robin Williams spöttisch als "Baseball unter Valiumeinfluss" beschrieben hat, interessiert, sollte bei "cricket.de" mal stöbern - wer sucht, findet vielleicht auch einen Verein mit Avantgardisten in seiner Nähe. Oder einfach einen der ganz großen Vorteile des Sports ausspielen: ein paar Freunde überreden, einen Ball und einen Schläger erstehen - und im Park loslegen.

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