Das Minnesota-Experiment (Teil 3) „Die Männer, die für die Wissenschaft hungerten“ – Die Hungerphase

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Ganz dem Vorbild Leningrad entsprechend wurde dieser Teil des Experiments abrupt eingeleitet, ohne den Männern einen Übergang zu gewähren. Jeder Proband bekam dabei ca. 50% seines vorher ermittelten Energiebedarfs, im Durchschnitt 1570kcal/Tag. Die Mahlzeitenhäufigkeit wurde dabei von drei (morgens, mittags, abends) auf zwei (8:30Uhr und 17:00Uhr) reduziert.

Die Auswahl der Lebensmittel orientierte sich ebenfalls an den Gegebenheiten im hungernden Europa, war also nach heutigen Standards eher unausgewogen. Die Hauptkomponenten bestanden dabei aus Kartoffeln, Kohl, Vollkornbrot, Teigwaren und Hülsenfrüchten. Fleisch gab es in nur sehr kleinen Mengen. Unbegrenzt erlaubt waren demgegenüber Wasser, schwarzer Kaffee, Kaugummis und Zigaretten.



Beispiel für ein Abendessen:


  • 185g Bohnen-Erbsensuppe ( 5g getrocknete Erbsen, 16g getrocknete Bohnen, 15g Schinken, Wasser)
  • 255g Makkaroni mit Käse (130g gekochte Makkaroni, 12g Schmalz, 108g Magermilch, 2g Mehl, 35g Käse)
  • 40g Steckrüben
  • 100g gedämpfte Kartoffeln
  • 100g Kopfsalat (80g Salat, 10g Essig, 10g Zucker)


Körperlich  Veränderungen


Keys Vorhersage des Gewichtsverlusts sollte sich als korrekt erweisen. Im Durchschnitt verloren die Teilnehmer 24% ihres Ausgangsgewichts. Der Körperfettanteil sank von 14% auf 5%, wobei besonders normale Tätigkeiten wie Sitzen als unangenehm empfunden wurden, da schlicht das „Polster“ fehlte. Der Anteil der Muskelmasse verringerte sich deutlich, insbesondere an Armen und Beinen. Die Körpertemperatur sank von 37°C auf 35,5°C, was sich in häufigem Frieren bemerkbar machte. Der Herzschlag sank von durchschnittlich 55 Schlägen pro Minute auf 35, wobei der geringste gemessene Wert bei 28 lag. Auch das Herzvolumen selbst nahm ca. 20% ab. In den letzten Wochen dieser Phase zeigten sich auch auffällige Ödeme an Händen und Füßen.

Die Messungen der physischen Leistungsfähigkeit zeigten ebenso gravierende Änderungen.

Während der Kraftverlust nach den ersten drei Monaten 21% betrug, erhöhte er sich zum Ende der Hungerphase auf 30%. Der Harvard-Fitness-Test wurde ab einem bestimmten Punkt nur noch mit Hilfsgurten durchgeführt. Nach drei Monaten war ein Leistungsrückgang von 55% erkennbar, nach sechs Monaten schon bis zu 90%. Der Zusammenbruch der Probanden kam teilweise so schnell, dass die Assistenten ohne dieses Hilfsmittel nicht in der Lage gewesen wären, sie ohne Verletzungsrisiko aufzufangen. Erklärbar wird dieser radikale Einbruch vermutlich durch die Kombination der körperlichen Einschränkungen aufgrund des Energiemangels und der veränderten mentalen Einstellung zu dem Test. Während am Anfang noch eine große Motivation deutlich war, dominierten zum Ende Resignation und gar Angst vor der Durchführung selbst.

Der Grundumsatz sank im Durchschnitt um 40%. Mehr, als man bei dem beschriebenen Gewichtsverlust erwartet hätte. Der Energiebedarf lag auch unter Berücksichtigung des Verlustes stoffwechselaktiven Gewebes ca. 16% unter dem Ausgangsniveau. Ein Ergebnis, welches sich später auch in Tierversuchen bestätigen würde.

In Selbsteinschätzungen bewerteten die Teilnehmer Selbstdisziplin, Wachsamkeit, Ehrgeiz, Konzentrationsvermögen, Sexualtrieb und allgemeinen Antrieb als verringert. Demgegenüber stiegen Hunger, Appetit, Reizbarkeit und Müdigkeit deutlich an. Überraschend war, dass sich auch die Annahme „Hunger schärft die Sinne“ zum Teil als richtig erweisen sollte. Zumindest kristallisierte sich dies für das Hörvermögen heraus. Tiefe Tonfrequenzen wurden besser vernommen, als vor dem Experiment. Des Weiteren reagierten die Teilnehmer empfindlicher auf laute Geräusche.



Ausgleichsmechanismen


Um dem spürbaren Verlust an Essbarem entgegenzuwirken, wurden die Dinge, welche unbegrenzt zur Verfügung gestellt wurden, sehr bereitwillig angenommen. Mit der Zeit auch in übertrieben großen Mengen. Bei einigen Teilnehmern wurde ein Konsum von bis zu 40 Streifen Kaugummi pro Tag beobachtet. Kalorienfreie Getränke wurden im Übermaß eingenommen. Schwarzer Kaffee wurde dabei im Laufe des Experiments von den Leitern auf 9 Tassen pro Tag reduziert, da auch dieser Genuss Ausmaße annahm, die von den Leitern als bedenklich eingestuft wurden. Der Zigarettenkonsum erhöhte sich ebenfalls.



„Moral Booster“


Der Krieg in Europa endete am 8. Mai 1945 mitten in der Hungerphase. Während Dr. Keys aus seinen bereits erhaltenen Ergebnissen zumindest einen vorläufigen Bericht verfasste, wie man mit Hungernden umgehen sollte, war die Welt der Probanden selbst auf ein einziges Thema zusammengeschrumpft: Essen. Dem Laborteam wurde immer klarer, dass sie irgendetwas tun mussten, um ihre Leute bei Laune zu halten. Deswegen planten sie ein  „Erleichterungsessen“, zusammengesetzt aus einer Auswahl an Lebensmitteln, die von der Gruppe selbst bestimmt wurde. 2366kcal reines Wunschkonzert, wenn auch perfekt abgewogen. Es zeigte tatsächlich Wirkung.

Auch für Keys selbst wurde es immer schwieriger, professionell an seinem Vorhaben festzuhalten, da er die Veränderungen seiner Probanden detailliert erfasste. Aus den Meerschweinchen mit Nummern wurden Menschen. Aber auch er wurde an den Zweck seines Vorhabens erinnert, und zwar in Form eines hochrangigen Armeearztes, welcher aus erster Hand seine Beobachtungen aus den Konzentrationslagern schildern konnte. Dieser bemerkte: „abgesehen davon, dass Dreck und sekundäre Hauterkrankungen bei den Testobjekten fehlen, scheinen die klinischen Muster des Halbhungerns, die wir auch in Europa observierten, dupliziert worden zu sein.“. Für Keys die Bestätigung, dass er auf dem richtigen Weg war.



Mentale Veränderungen beim Minnesota Experiment


Während ein Teil der körperlichen Veränderungen zumindest teilweise vor dem Experiment schon vorhersagbar waren, waren einige psychologische Vorgänge dann doch überraschend. Auch wenn Dr. Keys bei seiner Probandenauswahl recht streng vorgegangen war – eigentlich hätte er gern mehr davon gehabt, um die Ergebnisse noch aussagekräftiger zu gestalten – musste er erkennen, dass einige Teilnehmer nicht in der Lage waren, es zu beenden.



Ausgesonderte Probanden


FW wurde insbesondere durch seine Tagebucheintragungen für Keys interessant, da er explizit von Träumen mit kannibalistischem Inhalt berichtete. Im Bereich des Essens eigentlich das einzige große Tabu der Menschheit, welches in modernen Zivilisationen nur in wirklich extremen Ausnahmefällen gebrochen zu werden scheint. Er legte eine stark erhöhte Reizbarkeit an den Tag, welche ihn mit der Zeit von den anderen Teilnehmern isolierte, und sich weiter zu einer depressiven Verstimmung (ggf. auch Depression) verstärkte.

Aus Angst den Verstand zu verlieren, entwickelte FW Essanfälle, die sich außerhalb des Laborgeländes manifestierten, oder gar im Diebstahl von rohen Kohlrüben aus der Laborküche äußerten.  Auf den Verdacht des Betrügens hin angesprochen reagierte er psychotisch, was Dr. Keys dazu veranlasste, ihn in eine geschlossene Anstalt einliefern zu lassen. Nach einigen Tagen normaler Ernährung konnte er daraus aber wieder ohne Anzeichen einer Psychose entlassen werden. Aus dieser Erfahrung resultierte die Anordnung, dass sich die Teilnehmer nur noch in Begleitung außerhalb des Laborbereichs aufhalten durften.

EW arbeitete während seiner Teilnahme am Experiment in einem kleinen Lebensmittelladen. Auch wenn er sich selbst sicher war, stark genug zu sein, erwischte er sich selbst bei einem Blackout mit exzessiver Nahrungsmittelaufnahme aus den Regalen dieses Ladens. Von Schuldgefühlen geplagt, und unter körperlichen Symptomen (Übelkeit, Erbrechen) beichtete er diesen Vorfall den leitenden Psychologen Brozek. Dieser Vorfall war für diesen zu interessant, um ihn aus dem Experiment zu nehmen, dennoch schied EW später aufgrund einer Erkrankung aus, arbeitete aber weiterhin als Hilfskraft im Labor mit.

Die Daten dieser Männer wurden nicht mit in die Endauswertung genommen. Ebenso die zweier anderer Teilnehmer, deren Ergebnisse darauf hindeuteten, dass sie betrogen.



Psychologische Auffälligkeiten beim Minnesota Experiment


Auch wenn die ausgeschiedenen Personen sie extremsten Veränderungen zeigten, waren doch bei allen Probanden unnormale Verhaltensweisen erkennbar. Dies zeigte sich in kleinen Anzeichen, indem gut erzogene Männer plötzlich wie kleine Kinder ihre Teller bis auf den letzten Rest ableckten, eifersüchtig ihren Platz in der Warteschlange vor der Essensausgabe bewachten, oder anfingen an den Nägeln zu kauen. Aber auch in der Essensaufnahme selbst. Einige wollten ihre Mahlzeiten so heiß wie möglich, um ihre Sinneseindrücke zu schärfen, andere zermatschten alles Essbare auf ihrem Teller zu einem undefinierbaren Brei, um ihn dann emotionslos auszulöffeln. Wieder andere zelebrierten ihr Essen sehr lang – bis zu zwei Stunden für eine sehr kleine Mahlzeit. Auch Abneigungen gegen bestimmte Speisen verschwanden.

Am Auffälligsten war jedoch, dass das Thema Essen in jeglicher Form für alle Beteiligten immer interessanter wurde.

Das Sammeln von Rezepten, das Lesen von Kochbüchern und auch das Beobachten von anderen Menschen beim Essen wurde zu einer ausgiebig genutzten Freizeitbeschäftigung. Eine Verhaltensweise, die auch bei Anorexie-Patienten ausgeprägt ist. Auch wenn die Lehrveranstaltungen nur noch selten genutzt wurden, waren sie immer voll, wenn auch nur die kleinste Chance auf ein Ernährungsthema bestand, und sei es nur in einem Vortrag über den Anbau von Sojabohnen. Gastredner wurden mit der Zeit sogar ermutigt, das Thema Essen häufiger anzubringen, um das Interesse der Probanden zu wecken. Je größer der Hunger, desto ausschweifender die Beschäftigung mit dem nicht Erlaubten. Ein eigentlich paradoxer Zustand.

Mit der Zeit veränderte sich auch das Selbstbild der Männer. Von Außenstehenden als skelettartig mager beschrieben, empfanden sie sich selbst nicht so. Für sie sahen die Menschen in ihrer Umwelt schlicht zu dick aus. Eine Verzerrung der Realität, die ebenfalls als Parallele zu Anorexie-Patienten gesehen werden kann.;

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