Das Minnesota-Experiment (Teil 4) „Die Männer, die für die Wissenschaft hungerten“ – Eine Änderung zum Besseren?

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6 Monate waren vergangen, und es ist nicht schwer vorstellbar, wie sehr sich die Männer auf den Stichtag freuten, welcher ihren Hunger beenden sollte. Am 29. Juli 1945 war es soweit. Während ein Großteil der morgendlichen Schlange vor der Essensausgabe von den neuen Genüssen träumte, fragte sich der weit kleinere Teil, ob es wohl eine unangenehme Überraschung geben sollte.



"Eingeschränkte Rehabilitation"


Die Labormitarbeiter hatten in den Tagen vorher sehr vorsichtig von einer „eingeschränkten Rehabilitation“ gesprochen. Diese Befürchtung sollte sich bewahrheiten, denn es gab nicht einmal annähernd die feudale Kost, auf die die Hoffnungen lagen. Die verbliebenen 32 Probanden wurden ohne ihr Wissen in 4 Gruppen mit je 8 Mann geteilt. Es gab tatsächlich für jeden eine Erhöhung der Energiemenge, allerdings jeweils nur 400, 800, 1200 oder 1600kcal/Tag, abhängig davon in welcher Gruppe man landete. Zuzüglich dazu erhielte einige noch ein Proteinsupplement, andere ein Vitaminsupplement. Zum Leidwesen aller blieb auch die Lebensmittelauswahl weitgehend so wie vorher.

Da es praktisch unmöglich war, eine wichtige Information dauerhaft unter Verschluss zu halten, sickerte das Wissen um die prinzipielle Gruppeneinteilung natürlich durch. Über die Frage, wer nun wo drin war, konnte nur spekuliert werden. Fast alle wähnten sich in der 400kcal-Gruppe. Kein einziger glaubte daran, in der 1600kcal-Gruppe zu sein. Dies war ein erstes Indiz dafür, dass die Energiemengen so nicht ausreichend waren, um die Symptome des Hungers effizient zu vermindern.

Die einzige deutliche Zustandsänderung zeigte sich durch einen schnellen und massiven Gewichtsverlust, welcher auf der Reduktion der Wassereinlagerungen beruhte. Die erwartete Linderung der meisten anderen Beschwerden blieb aus. Insbesondere Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Heißhunger und depressive Verstimmungen blieben, oder wurden als teilweise noch schlimmer eingestuft. Auch andere Nebensymtome, die sich in den vorherigen Wochen etabliert hatten, blieben erhalten. Dazu zählten Haarausfall, sehr trockene Haut, blaue Fingernägel, dunkle Flecken um die Augen und Hyperkeratosen an den Extremitäten.



Ein kurzer Moment, der unerklärlich scheint.


Ebenso wie in der Hungerphase waren die meisten Probanden auch jetzt nicht weit von einem mentalen Zusammenbruch entfernt. Ein sehr oft in diesem Zusammenhang genanntes Beispiel ist SL, der das Pech hatte, tatsächlich in der 400kcal-Gruppe zu landen. Ein junger Mann, der von den meisten anderen Teilnehmern als freundliche und charakterstarke Persönlichkeit wahrgenommen wurde, und dementsprechend sehr beliebt war.

Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, bei Bekannten regelmäßig Holzhacken zu gehen, um dem Laborgelände zumindest für einige Zeit zu entfliehen. In der dritten Woche der Rehabilitations-Phase allerdings mit einem Zwischenfall – anstatt das Holzstück zu spalten, waren das Ziel 3 Finger seiner linken Hand. Er selbst konnte im Nachhinein nicht mehr klar sagen, ob es ein Unfall war, oder ob die Vorstellung einer üppigen Krankenhausmahlzeit ihn dazu verleitet hatte. Dr. Keys war sich sicher, dass eher letzteres der Fall war, da SL eine Woche vorher schon eine Handverletzung provozierte. Kurz nachdem er über die SL`s Krankenhauseinweisung informiert worden ist, ließ er seiner Frau gegenüber kurz seiner Verunsicherung freien Lauf: „My god Margaret, i`m torturing them!“

Für ihn stand fest, dass der nächste Proband ausgeschieden war. SL selbst bat aber eindringlich darum, es trotz seiner körperlichen Einschränkungen beenden zu dürfen. Auf die ungläubige Frage hin, warum er sich dies antun wolle, erhielt er eine klare Antwort: „Doktor, für den Rest meines Lebens werden mich Menschen fragen, was ich während des Krieges tat. Dieses Experiment ist meine Möglichkeit, ihnen eine ehrenhafte Antwort zu geben.“  Seine Angst davor, dass seine Daten nicht in die Endauswertung genommen werden könnten, war größer, als vor der verbleibenden Zeit des Experiments. Keys stimmte also zu, und ließ ihm seine Portionen abgewogen ins Hospital bringen. 5 Tage später kehrte SL ins Stadion zu seinen Kollegen zurück.



Minnesota - Experiment: Eine Änderung im Plan


Ziel dieses Experiments war herauszufinden, wie man Hungernde effizient behandeln kann. Während die Hungerphase praktisch nur die Vorarbeit war, sollte in der Rehabilitation nun dieses Wissen erworben werden. Da sich die vorgefertigte Planung in der Praxis als ernüchternd unproduktiv herausstellte – es trat kaum eine messbare Verbesserung, und erst recht keine signifikante Gewichtszunahme, ein -  entschieden sich die Wissenschaftler für eine Erhöhung der zugeführten Energiemenge von 800kcal/Tag in jeder Gruppe.

„Hungrige Menschen befolgen meinungslos Befehle. Füttere sie gut, und sie fordern ihre Selbstbestimmung.“

Am 9. September, 6 Wochen nach Beginn der R-Phase, wurde diese Änderung im Zuge eines weiteren „Erleichterungsessens“ eingeführt. Zwei Mahlzeiten wurden zu dreien. Süßkartoffeln, richtige Butter und Marmelade kamen als Standardlebensmittel zu den bisherigen dazu. Die allgemeine Stimmung stieg, und eine zentrale Theorie von Keys wurde bestätigt. Während sich die Lebensgeister der Probanden aufgrund der Ernährungsänderung erholten, stieg zeitgleich auch ihr Kampfgeist. Sie forderten vehement, dass das „Buddy-System“, welches einem untersagte, das Gelände allein zu verlassen, abgeschafft würde.

Es wurde ihnen gewährt. Zum einen aus schlichter Sorge, eine Rebellion der Männer könne das gesamte Experiment gefährden, zum anderen aber auch wegen der Freude über die Bestätigung einer zentralen Theorie Keys: „Hungrige Menschen befolgen meinungslos Befehle. Füttere sie gut, und sie fordern ihre Selbstbestimmung.“



Das Ende des Minnesota Experiments


Am 20. Oktober 1945 hatten sie es geschafft. Das gesamte Team aus Probanden, Wissenschaftlern und Hilfskräften versammelte sich in Shevlin Hall zu einem letzten feierlichen Abschlussessen, um die Erfolge zu feiern. Für jeden einzelnen der Probanden war dieser Tag mit einem persönlichen Triumph gleichzusetzen, die Widrigkeiten dieser Zeit überwunden zu haben. Wohlverdienter Stolz machte sich breit. Für die Wissenschaftler gab es einen anderen Grund zum Feiern.

Die Erhöhung der Essensrationen in den Wochen vorher hatte doch noch die erhoffte Wirkung erzielt. Die Gesundheit der Männer stabilisierte sich, und die Gewichtskurven stiegen wieder an. Zwar lagen sie immer noch ziemlich weit unter dem Anfangsgewicht, aber der Trend aufwärts war deutlich. Im Durchschnitt wurden 37% des verlorenen Gewichts wieder zugenommen. In der höchsten Kaloriengruppe (2400kcal über Hungerphasenmenge) lag der Endstand bei 10% unter dem Ausgangsgewicht.



Der menschliche Körper ist enorm widerstandsfähig


Ungeachtet der Masse an gesammelten Daten entwickelte sich bei Keys eine Haupterkenntnis: Der menschliche Körper ist enorm widerstandsfähig. Gestählt und geprüft durch immer wiederkehrende Hungersnöte in der Menschheitsgeschichte haben sich Mechanismen entwickelt, die ihn überleben lassen. Dank dieser Anpassungen, und der Tatsache, dass sie jung und gesund waren, hätten die Männer auch noch längere Zeit körperlich überstehen können. Der menschliche Anteil, der zuerst kapitulierte war der Geist. Die Psyche forderte bei ihnen ihren Tribut, wie sie es auch bei den Menschen tat, die das Fleisch anderer Menschen aßen, um ihr Überleben in echten Hungerzeiten zu sichern.

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