Das Kreuz mit dem Kreuz

Das Kreuz mit dem Kreuz

Picture courtesy by Fototechnik Warda


Probleme mit dem Kreuz führen die Hitliste der Krankschreibungen an: Rund 70 Millionen Arbeitstage fallen jährlich in Deutschland wegen Rückenschmerzen aus. Sie haben sich damit zu einer echten Volkskrankheit entwickelt. Was vielen besonders zu schaffen macht, sind Bandscheibenvorfälle: Etwa 70 000 mal pro Jahr werden sie in Deutschland operiert. Doch für viele Patienten bringt die Operation nicht das ersehnte Ende der Schmerzen. Echte Alternativen bieten hier die Mikrotherapie. Wir sprachen mit dem Bochumer Rückenexperten Prof. Dietrich Grönemeyer. Als Begünder der Mikrotherapie kennt er sich mit allen Facetten des Verfahrens aus.



FRAGE: Für die Behandlung von Rückenschmerzen werden Milliarden ausgegeben, dennoch werden viele Patienten ihr Leiden nicht los. Was läuft falsch?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Grundsätzlich kann man sagen, dass in Deutschland viel zu schnell operiert wird, häufig ohne eine korrekte Diagnosestellung. Aber hier ist glücklicherweise ein Wandel zu bemerken, immer mehr Ärzte und Krankenhäuser setzen auf schonendere Verfahren.  Aber kommen wir zunächst zurück zur Diagnose: Klassisch wird eine Röntgenaufnahme gemacht, obwohl man auf dem Bild nur die knöchernen Strukturen sieht. Muskelschwund oder ein Bandscheibenvorfall werden so nicht sichtbar und auch andere Veränderungen nur dann, wenn sie degenerativ sind. Bessere Aufnahmen liefert eine Kernspintomografie, weshalb wir dieses modernere bildgebende Verfahren in meinem Institut favorisieren. Und es vermeidet zugleich eine Strahlenbelastung, die jede Röntgenaufnahme darstellt.



FRAGE: Weshalb ist gerade der Rücken so anfällig für Schmerzen?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Bei den meisten Patienten liegt es am Lebensstil: Sie bewegen sich zu wenig, sitzen zu viel und dann auch falsch. Dadurch verkümmern und verspannen sich die Muskeln, die die Wirbelsäule stützen und einen Großteil des Gewichts abfedern, das auf der Wirbelsäule lastet. Kommt noch Übergewicht dazu, ist der Rücken besonders gefährdet. Nicht übersehen darf man aber auch den Zusammenhang zur Psyche: Der Rücken muss alles „tragen“, so auch Stress und seelische Belastungen. Wer unter Dauerbelastung steht, zieht instinktiv die Schultern hoch. Das ist eine ganz natürliche, unbewusste Abwehrhaltung. Die tun natürlich anschließend weh. Aber diese Körperhaltung bremst auch die Beweglichkeit des Brustkorbs. Die Drehbewegungen zwischen Hüfte und Schultern werden immer anstrengender, bis es richtig weh tut. Schmerzursachen können auch eingeklemmte Nerven, verschobene Bandscheiben und einseitige Belastungen sein sowie Verrenkungen durch Unfälle. Verschleiß ist nur zum kleinen Teil für Rückenschmerzen verantwortlich.



FRAGE: Was ist ein typisches Anzeichen für einen Bandscheibenvorfall? Ist es der Schmerz, der plötzlich ins Kreuz schießt?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Bei dem akuten plötzlich einschießenden Schmerz im Lendenwirbelbereich handelt es sich meistens um einen Hexenschuss. Durch falsches Heben oder eine Drehbewegung verhärtet sich blitzschnell die Muskulatur. Auch Blockaden in den Wirbelgelenken kommen als Auslöser infrage. Das kann so weh tun, dass man sich nicht mehr aufrichten kann. Deshalb halten das viele fälschlicherweise für einen Bandscheibenvorfall. Gegen die Verspannungen und leichte Schmerzen helfen meist Wärme, Massage oder Akupunktur. Sinnvoll ist ergänzend auch Krankengymnastik. Typische Symptome des Bandscheibenvorfalls sind starke, häufig in ein oder beide Arme oder in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen. Oft gehen diese mit einem Taubheitsgefühl im Versorgungsgebiet der eingeklemmten Nervenwurzel einher. Dramatisch wird es, wenn auch noch Lähmungserscheinungen dazukommen. Doch gibt es auch Bandscheibenvorfälle, die jahrelang unentdeckt bleiben, weil sie keine Schmerzen verursachen.



FRAGE: Und dann muss operiert werden?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: In den meisten Fällen lässt sich eine Operation, bei der der Wirbelkanal eröffnet, der Bandscheibenvorfall entfernt, vielleicht sogar eine Bandscheibenprothese implantiert oder die Wirbelsäule versteift wird, vermeiden. Solche einschneidenden, irreversiblen Eingriffe sind generell nur selten sinnvoll, beispielsweise wenn eine Lähmung droht. Im akuten Schmerzstadium hilft häufig eine lokale Kälteanwendung. Sind die Schmerzen schon chronisch, tut Wärme gut. Schmerz lindernd wirken außerdem Spritzen mit einem lokalen Betäubungsmittel sowie Schmerzmittel und Akupunktur. Zur Rehabilitation ist auch bei einem Bandscheibenvorfall Krankengymnastik wichtig.



FRAGE: Wann liegt eine Indikation zur Behandlung eines Nervenreizsyndroms (Periradikuläre Therapie = PRT)  vor, und wie sieht die Behandlung aus?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Bei der PRT handelt es sich um bereits chronisch gewordene Schmerzen infolge eines Bandscheibenvorfalls. Wenn konservative Behandlungen wie die Gabe leichter Schmerzmedikamente, lokale Wärmeapplikation, Krankengymnastik usw. nicht die erwünschte Besserung erbringen, kann mit einer gezielten, bildgesteuerten Mikrotherapie begonnen werden, die den gereizten Nerven zu „beruhigen“. Dabei werden unter Computer- oder Kernspintomographischer Steuerung gezielte Behandlungen um und an der Nervenwurzel durchgeführt. Eine dünne Spezialsonde wird bis unmittelbar an die Nervenwurzel vorgeschoben. Zur Kontrolle wird zusätzlich ein Röntgen Kontrastmittel durch die Nadel eingebracht, um die spätere Verteilung der Medikamente zu  planen. Wir setzen hier auf entzündungshemmende Medikamente wie Cortison oder sogar naturheilkundliche Mittel wie Traumeel zusammen mit örtlich wirkenden Betäubungsmitteln. Bei einer Cortisonunverträglichkeit bietet sich als Alternative „Orthokin“ an, das ist eine körpereigene Substanz. Schon innerhalb weniger Wochen kann man ein Abklingen der Entzündung, ein nachlassen der Schmerzen und eine Verbesserung der Beweglichkeit erreichen, so dass dann mit der Krankengymnastik und leichtem Sport begonnen werden kann.



FRAGE: Injektionen in und an die Bandscheibe bieten viele Orthopäden an. Was unterscheidet Ihre Methode von anderen minimalinvasiven Verfahren?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Wir bringen die Schmerzmittel immer CT- oder MRT-gesteuert ein und damit zielsicher und punktgenau. So optimieren wir die Wirksamkeit aber auch Sicherheit des Eingriffs. Durch die CT-Steuerung ist nahezu jedes Ziel erreichbar, selbst bei sehr übergewichtigen Patienten.



FRAGE: Können Sie die Bandscheibe mit der Mikrotherapie auch zum Schrumpfen bringen?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Uns stehen da verschiedene Verfahren zur Verfügung. Vieles bekommen wir mit unterstützend gegebenen Medikamenten hin, die den Nerv zum Abschwellen bringen, hin. Das Problem bei einem Vorfall ist ja, dass die Bandscheibe den Nerv auf den Knochen drückt. Der produziert Wasser, um sich zu schützen. Es entsteht ein Ödem, das den Raum für den Nerv noch enger macht – und Schmerzen verursacht. Also ist die beste Vorgehensweise, dieses Ödem wegzubekommen und gleichzeitig ein bisschen Wasser aus der Bandscheibe herauszuholen, um sie zu schrumpfen. Das machen wir mit Cortison, das wir gezielt lokal einbringen. In mehr als 80 Prozent der Fälle kann der Patient sich schon nach kurzer Zeit wieder bewegen und dann mit rehabilitierenden Maßnahmen wie Krankengymnastik selbst helfen.



FRAGE: Und wenn das aber nicht ausreicht?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Dann können wir die Bandscheibe CT- und MRT-gesteuert durch Laserenergie (Perkutane Diskusdekompression = PLDD) oder Radiofrequenzenergie (Nucleoplastie), manchmal auch mechanisch mit winzigen Zangen verkleinern. Durch die Haut werden feine Kanülen und Sonden in die Bandscheibe eingeführt. Das im Zentrum der Bandscheibe befindliche Gewebe wird mittels Laser- oder Radiofrequenzstrahlung erhitzt, verdampft und entfernt. Auch kann an auf diese Weise Bandscheibengewebe so weit schrumpfen, dass sich der Bandscheibenvorfall etwas zurückzieht und so wieder mehr Platz für das Nervengewebe ist. Anschließend wird der Bandscheibenraum gespült und ein Antibiotikum zum Schutz vor bakteriellen Entzündungen gegeben. Die Kanüle wird dann aus der Bandscheibe entfernt. Vorteil: Es gibt keine großen Wunden. Die Bandscheibenverkleinerung wird in örtlicher Betäubung ohne Vollnarkose durchgeführt.



FRAGE: Wie schnell ist der Patient nach dem Eingriff wieder auf den Beinen?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Er kann meist nach zwei Stunden schon wieder aufstehen. Doch wird während der ersten Tage wird weitgehende Schonung empfohlen.



FRAGE: Sind mikrotherapeutische Eingriffe schonender als klassische Operationen? Welche Risiken gibt es?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Wie bei jedem Eingriff bietet natürlich auch die Mikrotherapie minimale Risiken wie mögliche Infektionen, Einblutungen, Schmerzen, Beschwerdezunahme. Aber sie sind zum Glück sehr selten. Zudem sind mikrotherapeutische Eingriffe erheblich schonender als klassische Operationen: Es genügt eine lokale Betäubung, man muss keine Narbenbildung befürchten, die Patienten sind erheblich schneller wieder auf den Beinen und können mit der Nachsorge beginnen.



FRAGE: Wie sieht die Nachsorge aus?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Zunächst müssen wir für eine körperliche Entlastung sorgen, gleichzeitig aber bei die Bewegung und Rumpfstabilisierung erhalten: Dafür eignet sich eine flexible Lumbalbandage. Wenn die Belastbarkeit wiederhergestellt ist, raten wir zu Osteopathie, Physiotherapie, einer Rückenschule. Später gehören Muskelkräftigung von Rücken und Bauch dazu, um den Rücken zu stärken und vor neuen Vorfällen zu schützen.



FRAGE: Was kann der Betroffene selbst dazu beitragen, um seine Bandscheibe zu unterstützen und entlasten?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Er sollte vor allem für eine Stabilisierung seiner Muskulatur sorgen – mit Bewegung, Sport, Rückengymnastik. In einer Rückenschule kann er rückengerechtes Verhalten erlernen. Und vor allen sollte vorhandenes starkes Übergewicht abgebaut werden



FRAGE: Sie sind ein Verfechter einer ganzheitlichen Behandlung  – weshalb ist das so wichtig? Und macht das einen guten Mediziner aus?



PROF. DIETRICH GRÖNEMEYER: Alle Aspekte des Lebens spiegeln sich im Rückenschmerz wieder und müssen deshalb mitbehandelt werden. Unsere Stimmung und Motivation haben auch unmittelbar Einfluss auf die Muskelspannung und Körperhaltung. Ein guter Arzt muss zuhören und beobachten können, auf den Patienten eingehen, und Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Empathie, also ein Mitfühlen, halte ich für enorm wichtig. Moderne Mediziner arbeiten interdisziplinär, eng mit Kollegen anderer Fachrichtungen zusammen – an unserem Bochumer Institut für Mikrotherapie machen wir das seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Nur so können Patienten sicher sein, fachlich kompetent, mit innovativen Methoden und vor allem menschlich behandelt zu werden.



 







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Prof. Dietrich Grönemeyer: Der Erfinder der Mikrotherapie



Prof. Dietrich Grönemeyer, Jahrgang 1952, ist Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten/Herdecke und Leiter Grönemeyer-Instituts für Mikrotherapie Bochum. Weltweite Gastprofessuren. Seit Jahren ist er Vorsitzender des Wissenschaftsforums Ruhr e.V. Für seine Verdienste um die Modernisierung der Region erhielt er den Titel "Bürger des Ruhrgebiets". Als Arzt, Wissenschaftler und Autor zählt Dietrich Grönemeyer zu den entschiedenen Verfechtern einer ganzheitlichen Medizin zwischen High-Tech und traditionellen Heilweisen, für die er sich auch mit den Projekten seiner Stiftung einsetzt. 



 



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Unsere Wirbelsäule



Die Wirbelsäule ist die zentrale Stütze unseres Körpers und besteht aus insgesamt 34 Wirbeln. Zehn von ihnen, im Kreuz- und Steißbein, sind miteinander verwachsen. Deshalb spricht man von 24 freien Wirbeln. Die Wirbelsäule wird in unterschiedliche Regionen eingeteilt: Die sieben Wirbel der Halswirbelsäule nennt man zervikal (abgekürzt C), die zwölf Brustwirbel thorakal (TH), die fünf Lendenwirbel lumbal (L). Am Ende des Rumpfes liegen fünf miteinander verbundene Wirbel – das so genannte Kreuzbein (S 1 bis S 5). Auf beiden Seiten grenzt dieses an je ein Darmbein an und bildet gemeinsam mit diesem Paar das Becken. Am untersten Ende der Wirbelsäule sitzen meist vier, manchmal aber auch drei oder fünf Knochen, die das Steißbein bilden, den evolutionären Rest des Schwanzes, den unsere Vorfahren besaßen.



Die einzelnen Wirbel, die durch Bandscheiben voneinander getrennt werden, haben als Hauptstück elliptische bis runde Zylinder, die Wirbelkörper. Dahinter spreizen sich verschiedene Knochenfortsätze um ein Loch herum ab – den Wirbelkanal. An den einzelnen Wirbeln treten Nervenbündel aus dem Wirbelkanal aus, die jeweils unterschiedliche Regionen des Körpers versorgen. 





Artikel zur Verfügung gestellt vom 
Grönemeyer Institut  -  www.gimt-online.de

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