Statt Fitnessstudio: Warum 7000 Schritte gesünder sind als 24 Monatsraten

Statt Fitnessstudio: Warum 7000 Schritte gesünder sind als 24 Monatsraten

Sebastian Voortman / Tima Miroshnichenko Pexels
Statt Fitnessstudio: Warum 7000 Schritte gesünder sind als 24 Monatsraten

Willkommen in der Motivationshölle

(rs) Egal ob Frühling, Spätsommer oder mitten im Wochenendblues – irgendwo läuft gerade wieder eine Aktion: „Jetzt starten! Neues Ich!“ Die Werbekampagnen glühen ganzjährig, die Spiegel in den Studios glänzen frischer als der Waschbrettbauch eines Influencers, und die Plakate versprechen Selbstoptimierung im Sonderangebot – 9,90 € als Lockmittel, danach zieht der Vertrag an wie dein Muskelkater und du zahlst die volle Ladung, Hammerpreis ja, aber der Hammer trifft dich!

 Der übliche Schmuh einer Branche, die mit dem horizontalen Gewerbe mehr gemein hat, als ihr lieb ist: Versprochen wird Verwandlung, geliefert wird Vertragsbindung.  Aber hey: nur für kurze Zeit. Was sie nicht dazuschreiben: Ihr neues Ich wird wahrscheinlich nach wenigen Wochen wieder auf dem Sofa sitzen und sich fragen, warum es jeden Monat Geld abbucht, obwohl es gar nicht mehr weiß, wo die Mitgliedskarte liegt.

Die große Fitnesslüge: Je mehr, desto besser?

Hinter dem allgegenwärtigen Fitnessterror steckt ein Mythos, der sich hartnäckiger hält als die Kilos nach der Weihnachtszeit: Mehr Sport sei automatisch besser für die Gesundheit. Doch die Wissenschaft ist da längst weiter – deutlich weiter. Studien belegen:

Der gesundheitliche Nutzen von Sport folgt einer Dosis-Wirkungs-Kurve mit abflachendem Verlauf. Oder einfacher: Der erste Schritt bringt viel, der hundertste kaum noch was. Die jüngste Metaanalyse aus 2025, veröffentlicht in The Lancet Public Health, fasst es präzise zusammen: Bereits 7000 Schritte pro Tag senken die Gesamtsterblichkeit um satte 47 % – im Vergleich zu Bewegungsmuffeln mit unter 2000 Schritten.1

10.000 Schritte – das religiöse Dogma der Sportindustrie

Die 10.000-Schritte-Regel ist so etwas wie die Erbsünde der Fitnessbewegung: Keiner weiß genau, woher sie kommt, aber alle fühlen sich schuldig, wenn sie ihr nicht folgen. Tatsächlich stammt die Zahl nicht aus einem wissenschaftlichen Konsens, sondern – Trommelwirbel – aus einem japanischen Werbeslogan von 1964. „Manpo-kei“ nannte sich ein Schrittzähler, dessen Name wörtlich „10.000-Schritte-Zähler“ bedeutet.

Kein medizinischer Beleg, keine Studie, nur ein hübscher runder Wert mit religiösem Einschlag. Und wie bei jeder guten Religion folgt auf die Schuld auch gleich das Angebot zur Erlösung: Für nur 24 Monatsraten à 19,90 € können Sie sich im Studio auf dem Laufband freikaufen – halleluja! Der Trick ist uralt: Mach den Menschen ein schlechtes Gewissen und verkaufe ihnen dann die Absolution im Abo.

Die katholische Kirche perfektionierte das Modell mit der Erbsünde, Fitnessstudios haben es digitalisiert. Was früher Beichtstuhl und Ablassbrief war, heißt heute Mitgliedsvertrag mit Chiparmband und App-Anbindung. Amen und Vertragslaufzeit.


Der Körper liebt Bewegung – nicht Schinderei

Bewegung ist zweifellos gesund. Aber das bedeutet nicht, dass mehr Training, mehr Gewicht und mehr Schweiß zwangsläufig besser sind. Der Körper reagiert auf Reize, nicht auf Dauerbeschallung. Besonders im Ausdauerbereich zeigt sich das deutlich: Menschen, die regelmäßig – aber moderat – aktiv sind, haben das beste Verhältnis von Gesundheitsnutzen zu Aufwand. Schon 150 Minuten moderate Aktivität pro Woche senken das Risiko für Herzerkrankungen, Diabetes Typ 2, bestimmte Krebsarten und Demenz.3

Die Schattenseite: Übertraining, Frust und Burn-out

Was passiert also, wenn man der Logik „viel hilft viel“ blind folgt? Genau: Die Verletzungsstatistiken in Reha-Praxen sprechen Bände. Läuferknie, Schulterimpingement, Lendenwirbelprobleme – Klassiker der „Ich-war-zu-ehrgeizig“-Fraktion. Chronisches Übertraining kann zudem das Immunsystem schwächen („Open Window“), die Hormonlage destabilisieren (z. B. Cortisol-Dominanz) und Schlafstörungen auslösen. Und wer zu oft über seine Grenzen geht, verliert am Ende nicht nur Muskelmasse, sondern auch Motivation.4

Ein kleiner Exkurs in Realität: Die Vertragsfalle

Nun ein kurzer Blick in die wirtschaftliche Realität der Fitnessbranche: Die meisten Studios finanzieren sich über Menschen, die nicht hingehen. Kein Witz. Würden alle Mitglieder regelmäßig erscheinen, wäre jedes Studio nach drei Wochen überfüllt, die Duschen am Limit, die Abflüsse verstopft – weil sich Fitnessgrazien mit Selfie-Abo-Tarif dort regelmäßig die Arschhaare rasieren.

Die Solarien – auch liebevoll „Schneewittchensarg“ oder „Krebspritsche“ genannt – würden so konstant glühen, dass sie strahlentechnisch dem gerade abgeschalteten Kernkraftwerk in Rufnähe Konkurrenz machen.

Aber keine Sorge: Dieses Szenario bleibt Fiktion. Die Realität ist bequemer. Die Verträge – bevorzugt 12 bis 24 Monate – setzen genau darauf: Dass SIE irgendwann aufgeben. Die psychologische Masche dahinter: Wer langfristig spart (weil der Vertrag günstiger ist), fühlt sich clever. Die Studios freuen sich, weil nach drei Monaten sowieso keiner mehr kommt – aber 21 Monate weiter zahlt.

Fitnessstudio: Die moderne Kathedrale mit Proteinriegel

Man betritt sie ehrfürchtig. Es riecht nach Desinfektionsmittel, künstlicher Vanille und altem Schweiß. Helle LED-Spots, sakral angeordnet, erleuchten stählerne Geräte, die aussehen wie Folterinstrumente aus einer Zukunfts-Dystopie. Willkommen in der postmodernen Kathedrale des Selbstoptimierungskults. Hier wird nicht mehr gebetet, sondern geschwitzt. Die Beichte heißt Eingangsscan, das Bußritual beginnt mit Burpees.

Wer sündigt – etwa durch Wochenend-Pizza oder zwei Tage Trainingspause – kann seine Absolution an der Shakebar erwerben: Vegan, mit BCAA-Zusatz. Und wehe dem, der den Vertrag infrage stellt: Das Studio ist allgegenwärtig. Auf deinem Smartphone, in deinem Kalorienzähler, in deinen Schultern. Der Fitnessglaube ist omnipräsent – nur ohne Exit-Strategie. Den Ärger bekommt man zwar höchst selten mit, aber wenn, dann gleich in der Lokalzeitung:

Wenn der Studiobetreiber mal wieder auf die Erfüllung seines Knebelvertrags pocht und ein säumiges Mitglied öffentlichkeitswirksam an den Pranger stellt – inklusive Mahngebühren, Anwaltsdrohung und dem moralischen Zeigefinger aus dem Bizeps heraus.


Fitness ohne Vertrag – geht das überhaupt?

Oh ja. Gehen ist ohnehin gesünder als ein Drittel der Geräte im Studio. Auch der Deutsche Verband für Gesundheitswissenschaften empfiehlt: 7000 Schritte täglich, zwei Mal pro Woche moderates Krafttraining (mit dem eigenen Körpergewicht reicht), etwas Beweglichkeit – fertig ist das Gesundheitsrezept.5 Dazu braucht es keine Klimmzugmaschine mit Bluetooth. Was es braucht: Routine, Ermutigung und etwas Alltagsverstand.

Und was ist mit den Studiogängern, die durchziehen?

Natürlich gibt es sie: Die 5 %, die wirklich regelmäßig trainieren, Struktur haben, sauber ausführen und sich nicht im Spiegel flexen, sondern dehnen. Ihnen gebührt Respekt. Aber: Diese Menschen würden auch ohne Vertrag trainieren. Oft sogar besser – denn sie sind nicht auf die Außenwirkung eines Studios angewiesen. Für sie ist Training kein Vorsatz, sondern Alltag. Und sie sind selten die Zielgruppe der Januar-Kampagnen.

Wie man es besser macht – und was wirklich zählt

Die bessere Strategie lautet: Finde deine minimale effektive Dosis – und bleibe dabei. Für viele reicht ein 30-minütiger Spaziergang am Morgen, zwei funktionelle Ganzkörpertrainings pro Woche, ein bisschen Yoga, vielleicht Rad statt Auto. Das alles spart Geld, Stress und Vertragsschmerzen. Und verbessert Studien zufolge sogar die mentale Gesundheit besser als dauerhafte Selbstoptimierung in gespiegelten Räumen.6

Der unterschätzte Faktor: Spaß

Sport ist dann nachhaltig, wenn er Freude macht. Tanzen, Wandern, Klettern, Schwimmen, Radfahren, Trampolinspringen – alles erlaubt. Die WHO hat nie gesagt: „Thou shalt squat in a Fitnessstudio.“ Bewegung ist ein biologisches Bedürfnis – kein Vertragsthema. Wer sich gerne bewegt, bleibt dran. Wer es nur macht, weil es im Vertrag steht, hört auf – garantiert.

Mein Letzter Satz? : Bitte kündigen Sie jetzt nicht Ihr Studio-Abo – trainieren Sie einfach mal drin.

Vielleicht gehören Sie zu den 5 %, die wirklich einen langfristigen Nutzen haben. Wenn ja: Chapeau.
Und falls Sie regelmäßig kommen – Tag für Tag, Woche für Woche, wehe, Sie parken ihm den Platz weg – das ist der wahre Tabubruch im System:

Nichts ärgert den Proll-Fitnessstudio-Betreiber mehr, der seine fette Kiste direkt vor dem Eingang à la California Dreams parkt, damit seine Investoren – also die Mitglieder – sehen, warum sie überhaupt trainieren, bzw. dass es sich lohnen kann, wenn andere einen Darmverschluss riskieren, weil sie die künstlich gesüßten Proteinshakes schlürfen, die meist auf der Grundlage von Molke basieren – jenem Abfallprodukt, das man früher höchstens den Schweinen verfütterte, heute aber gewinnbringend im Fitnessstudio vermarktet.

... Und währenddessen macht ein muskelbepackter Proll, der mehr Reibungsenergie zwischen seinen aufgepumpten Oberschenkeln erzeugt als ein Zylinder in einem Sportwagen ohne Öl, auf Instagram Werbung für genau diesen Tempel. 


Quellen:
1. Paluch AE et al., JAMA. 2021;325(11):1111-1120.
2. SRF, „Warum Sie die 10'000-Schritte-Regel (fast) vergessen können“, 2025
3. WHO Guidelines on Physical Activity and Sedentary Behaviour, 2020
4. Meeusen R et al., European Journal of Sport Science, 2013
5. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), „Empfehlungen für Bewegung“, 2022
6. Craft LL, Perna FM, Primary Care Companion J Clin Psychiatry. 2004;6(3):104-111.

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