Die mediale Erzählung vom entzauberten Wundermittel
Immer wenn ein Nahrungsergänzungsmittel zu populär wird, schlägt die Stunde der vermeintlich entlarvenden Artikel. Jüngstes Beispiel: Omega-3-Fettsäuren. In großen Medien wie dem ZEITmagazin wird derzeit wieder die Frage aufgeworfen, ob Fischöl- oder Algenölkapseln überhaupt irgendeinen nachweisbaren Nutzen haben.
Demenzprävention, Schutz vor Herzinfarkt, bessere Stimmung, höherer IQ – alles soll angeblich wissenschaftlich widerlegt oder zumindest überbewertet sein. Und wer genauer hinsieht, erkennt schnell ein Muster, das mit Wissenschaft nur bedingt zu tun hat – dafür umso mehr mit medialer Aufmerksamkeitsökonomie.
Was Studien wirklich zeigen – differenzierte Evidenz statt pauschale Urteile
Denn tatsächlich gibt es zahllose Studien, die sehr wohl positive Effekte von Omega-3-Fettsäuren dokumentieren – vor allem bei Menschen mit Vorerkrankungen oder Risikofaktoren. Die REDUCE-IT-Studie etwa zeigte, dass hochdosiertes EPA (eine Omega-3-Fettsäure) das Risiko schwerer Herz-Kreislauf-Ereignisse bei Hochrisikopatienten signifikant senkt.
Auch in der Rheumatherapie werden Omega-3-Fettsäuren erfolgreich eingesetzt, um Entzündungen zu reduzieren und die Medikamentendosis zu senken. Und bei Depressionen weisen mehrere Metaanalysen darauf hin, dass EPA-reiche Präparate zumindest als unterstützende Maßnahme einen Effekt haben können – besonders bei Personen mit chronischen Entzündungsprozessen.
Anwendungsgebiet | Evidenz | Bemerkung |
---|---|---|
Herz-Kreislauf | Hoch | v.a. bei Risikopatienten (z.B. REDUCE-IT-Studie) |
Depression | Moderat | EPA-reiche Präparate besonders wirksam |
Rheuma & Entzündung | Gut | Schmerz- & Entzündungsreduktion belegt |
Demenzprävention | Schwach | v.a. in Beobachtungsstudien angedeutet |
Schwangerschaft & Kinder | Moderat | Frühgeburten & kognitive Entwicklung |
Warum viele Negativstudien nicht aussagekräftig sind
Die vermeintlich neutralen Negativstudien hingegen haben oft eine Gemeinsamkeit: Die Dosierung ist niedrig, die Zielgruppe zu gesund, die Präparate minderwertig oder nicht differenziert nach EPA und DHA. Viele verwenden generische Fischöle mit geringer Wirkstoffkonzentration, statt auf hochgereinigte Formen zu setzen, die in klinischen Settings nachweislich wirksamer sind. Das ist in etwa so, als würde man Aspirin mit Weidenrindentee vergleichen und dann feststellen, dass der Effekt ausbleibt. Kein Wunder. Wer pauschal urteilt, pauschalisiert auch das Ergebnis.
Kontextlosigkeit und Pauschalurteile im Journalismus
Hinzu kommt: In manchen Artikeln werden Einzelstudien ohne Kontext präsentiert – gerne mit dem Argument, dass eine Metaanalyse „keinen eindeutigen Nutzen“ zeigt. Dabei wird ignoriert, dass viele Metaanalysen gar nicht nach klinisch relevanten Untergruppen differenzieren. Einem 65-jährigen Diabetiker mit Herzinsuffizienz bringt Omega-3 möglicherweise sehr wohl etwas – ein durchtrainierter 30-Jähriger mit ausgewogener Ernährung profitiert kaum. Diese Differenzierung findet aber in den meisten pauschalen Medienberichten nicht statt. Und das ist ein Problem.
Wie es ein Professor, der sowohl an einer Sport- als auch an einer medizinischen Universität lehrte, einmal zugespitzt formulierte: „Für die Testung von Medikamenten und Supplements gibt es zwei Gruppen – Sportler und den Rest der Bevölkerung.“ Gemeint war damit die absurde Logik vieler Studien, in denen hochtrainierte, metabolisch stabile Probanden untersucht werden – und daraus Schlüsse für Patienten mit chronischen Erkrankungen, Entzündungen oder Risikofaktoren gezogen werden.
Zu Deutsch: Man testet Wirkstoffe an gesunden Menschen und wundert sich, dass kein Effekt messbar ist. Das ist, als würde man Heizungen im Hochsommer evaluieren – und dann feststellen, dass sie scheinbar nichts bringen.
Wenn Aufklärung zum Clickbait wird
Denn was da veröffentlicht wird, ist nicht reine Aufklärung, sondern oft eine subtile Form von Clickbaiting – mit dem beliebten Subtext: „Lasst euch von der Industrie nicht verarschen.“ So entsteht der Eindruck, dass Nahrungsergänzungsmittel grundsätzlich überflüssig oder wirkungslos seien – obwohl genau das in der Forschung niemand seriös behauptet. Die Nuancen verschwinden. Es zählt die Pointe: „Wieder ein Hype entlarvt.“
Die simple Motivation hinter komplex klingenden Texten
Die Motivation solcher Artikel ist in vielen Fällen banal: Aufmerksamkeit erzeugen. Supplements sind populär, werden breit konsumiert, und wer ihnen öffentlich die Wirksamkeit abspricht, generiert Reaktionen. Kritische Kommentare, geteilte Links, Diskussionen. Genau das will eine Redaktion – vor allem, wenn es darum geht, den Paywall-Artikel mit möglichst vielen Augen zu monetarisieren.
Wenn dabei die wissenschaftliche Differenzierung auf der Strecke bleibt, ist das kein journalistischer Zufall, sondern eine redaktionelle Entscheidung. Denn echte Wissenschaft ist oft unsexy: Sie lautet nicht „wirkt“ oder „wirkt nicht“, sondern „wirkt unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Menschen bei bestimmter Dosis“. Nur interessiert das auf Instagram niemanden.
Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Meinung
Besonders absurd wird es, wenn journalistische Produkte, die früher für tiefgehende Analyse und differenzierte Betrachtung standen, sich heute auf einem Niveau bewegen, das von Fitnessinfluencern auf TikTok nicht mehr zu unterscheiden ist – mit dem Unterschied, dass die Influencer wenigstens offen sagen, dass sie Produkte bewerben oder ablehnen.
Der sogenannte Qualitätsjournalismus hingegen verkauft seine Thesen als objektive Wahrheit, obwohl sie oft auf selektiven Studieninterpretationen und vereinfachten Narrativen beruhen. Der Ruf der ZEIT – um ein Beispiel zu nennen – basiert auf differenzierter Einordnung. Wenn das verloren geht, wird auch der Unterschied zu Buzzfeed oder Lifestyleportalen immer kleiner.
Was bleibt am Ende wirklich übrig?
Was bleibt also als nüchternes Fazit? Omega-3-Fettsäuren sind kein Wundermittel. Sie heilen keine Demenz, steigern nicht magisch den IQ und ersetzen keine gesunde Ernährung. Aber sie sind auch kein unnützes Placebo. Wer sich selten von fettem Seefisch ernährt – etwa Makrele, Hering oder Lachs – kann durch ein hochwertiges Fischölpräparat (idealerweise mit gereinigtem EPA und DHA) seine Versorgung sinnvoll ergänzen.
Menschen mit erhöhtem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Entzündungen oder Depressionen können von gezielter Supplementierung profitieren – insbesondere dann, wenn hochwertige Studien als Grundlage dienen und die Dosis stimmt.
Auch in Schwangerschaft, Stillzeit und Kindheit zeigen sich positive Effekte auf Entwicklung und Frühgeburtsvermeidung. Entscheidend ist die Kombination aus Qualität, Dosierung, Zielgruppe und wissenschaftlicher Evidenz – und genau das wird in vielen pauschalen Medienurteilen ausgeblendet. Wer Omega-3 verteufelt, weil es nicht allen alles bringt, hat die Idee von Prävention nicht verstanden.
Haftungsausschluss: Die in diesem Artikel bereitgestellten Informationen dienen ausschließlich der allgemeinen Aufklärung und ersetzen keine medizinische Beratung, Diagnose oder Behandlung durch einen approbierten Arzt. Nahrungsergänzungsmittel sollten nicht ohne Rücksprache mit einem Arzt oder einer Ärztin eingenommen werden – insbesondere bei bestehenden Erkrankungen, Schwangerschaft oder der Einnahme von Medikamenten. Die Wirksamkeit von Omega-3-Produkten kann je nach individueller Situation variieren. Für gesundheitliche Entscheidungen ist stets eine persönliche ärztliche Beratung erforderlich.
Wissenschaftliche Quellen
- Bhatt DL et al. (2019): Cardiovascular Risk Reduction with Icosapent Ethyl for Hypertriglyceridemia – New England Journal of Medicine
- Manson JE et al. (2019): Marine n−3 Fatty Acids and Cardiovascular Disease – NEJM, VITAL trial
- Su KP et al. (2018): Efficacy of omega-3 fatty acids in major depressive disorder – JAMA Network Open
- Mocking RJ et al. (2016): Meta-analysis: Omega-3 and depression – Translational Psychiatry
- Middleton P et al. (2018): Omega-3 fatty acid addition during pregnancy – Cochrane Database
- Calder PC (2013): Omega-3 fatty acids and inflammatory processes – British Journal of Nutrition
- Richardson AJ & Montgomery P (2005): Omega-3 and ADHD – Pediatrics
- Bloch MH & Qawasmi A (2011): Omega-3 for ADHD – Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry
- Goldberg RJ & Katz J (2007): Omega-3 and rheumatoid arthritis – American Journal of Clinical Nutrition