Fitnessstudio-Werbung in der ARD: Prime-Time Pumpenpropaganda

Fitnessstudio-Werbung in der ARD: Prime-Time Pumpenpropaganda

Scott Webb / Sabel Blanco Pexels
Fitnessstudio-Werbung in der ARD: Prime-Time Pumpenpropaganda

Was die Sendung verspricht – und was sie wirklich zeigt

ARD Wissen verkauft seine Episode „Mein Körper. Meine Muskeln – Mehr als Power und Pumpen“ als wissenschaftliche Doku, läuft aber zur besten Sendezeit wie eine Hochglanz-Infomercial für die Fitnessbranche. Hoch definierte Influencerinnen stemmen Kurzhanteln, Trainer lächeln blickdicht ins Kameralicht – und die unterschwellige Botschaft lautet: Wer keinen Studiovertrag hat, droht muskulär zu veröden.

Eine kritische Analyse der ARD-Doku "Mein Körper. Meine Muskeln - Mehr als Power und Pumpen"

Dass die Sendung offiziell in der Reihe „ARD Wissen“ läuft, verleiht dem Ganzen eine staatstragende Anmutung, die jedem Marketingchef das Herz aufgehen lässt. "Mein Körper. Meine Muskeln – Mehr als Power und Pumpen" aus der ARD-Wissensreihe will mehr sein als eine Muskel-Doku – doch was als Wissenssendung angekündigt wird, entpuppt sich als emotionales Plädoyer ohne Tiefenschärfe. Der Titel klingt vielversprechend: Es soll um die Rolle von Muskeln als Stoffwechselorgan, ihre Bedeutung für Immunprozesse und Prävention gehen. Eine medizinisch fundierte Auseinandersetzung also, eingebettet in die Lebensrealitäten starker Frauen.

Die filmische Umsetzung folgt dabei einem klassischen Narrativ: Drei Frauen mit ganz unterschiedlichen Biografien stehen im Mittelpunkt. 1. Da ist die alleinstehende Mutter, die zwischen Kita, Job und Deadlifts ihren Alltag stemmt und als Sinnbild für weibliche Resilienz im Krafttraining inszeniert wird. 2. Eine Studentin, die ihren Körper zurückerobert – nach Essstörung, Selbstzweifeln und mit zunehmendem Muskeltonus als Symbol für innere Stabilität. 3. Und eine Reha-Patientin, die nach ihrer Krebsdiagnose mit gezieltem Muskelaufbau nicht nur ihre Mobilität zurückerlangt, sondern neue Lebenskraft findet.

Vom Ideal zur Realität: Was die Influencerin wirklich zeigt

All das ist bildstark, emotional, gut produziert. Besonders eine der Frauen spricht offen darüber, wie sie als Fitness-Influencerin jahrelang ein Extrembild verkörperte, das sie körperlich und mental nicht mehr halten konnte. Sie beschreibt, wie sie nach intensiven Bodybuilding-Phasen zunahm, sich aus der Wettkampfform zurückzog und heute mit einer 'normaleren' Figur lebt – ein Thema, das durchaus Tiefgang hat.

Doch die Doku nutzt diese ehrliche Reflexion nicht als Einstieg in eine Diskussion über unrealistische Körperideale, Essstörungen oder Social-Media-Druck, sondern belässt es bei einer individuellen Heldengeschichte. Die Chance, aus einem persönlichen Wendepunkt eine gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln, bleibt ungenutzt.

Auffallend ist dabei die professionelle Präsentation der Protagonistinnen: Sie agieren wie Influencerinnen, sprechen in perfekt gesetzten Statements, bewegen sich in durchinszenierten Studioszenen und wirken jederzeit kameraerprobt. Die Doku macht keinen Hehl daraus, dass sie visuell und stilistisch genau jene Social-Media-Ästhetik aufgreift, die sonst in Fitness-Reels und Selbstoptimierungs-Formaten verbreitet wird.

Darf man in einer solchen Sendung nicht mehr Informationsgehalt erwarten als bei einer Schlagershow, in der frühere Stars mit viel Aufwand à la Frankenstein aus der Mumienkiste geholt werden – Figuren, bei denen höchstens unsere Omas in Ekstase verfallen und bis zur Bewusstlosigkeit klatschen? Oder anders gesagt: Die Frage drängt sich auf: Lief da gerade ein Beitrag aus der ARD-Wissensreihe – oder das Aftermovie eines Influencer-Retreats? Der WDR sollte mehr liefern als Hochglanz-Pathos. Oder ist das jetzt der neue Bildungsauftrag – Feel-Good statt Faktenlage?


Zwischen Emotion und Einzelfall: Wo bleibt der Kontext?

Zwischen den Geschichten schiebt die ARD kurze medizinische Einspieler ein: Der Begriff Myokine wird erklärt, ebenso die Rolle der Muskulatur für das Immunsystem, für metabolische Prozesse und Prävention von Erkrankungen wie Diabetes und Osteoporose. Auch Experten kommen zu Wort – allerdings eher als Bestätigung denn als kritische Instanz. Es handelt sich um bekannte Stimmen aus der deutschen Sportmedizin, doch ihre Aussagen bleiben knapp, folgenlos und affirmativ. Das gesprochene Wort dient dem Narrativ, nicht der Einordnung.

Ergänzt wird das Format durch atmosphärische Bilder aus High-End-Studios, urbane Kulisse, Linsenflare auf dem Trizeps.  Ganze Arbeit, Respekt an die Produktionsfirma! Hollywood ruft Euch  (Sarkasmus aus) . Wer aus der Zielgruppe stammt, fühlt sich gesehen – wer einen Realitätsabgleich sucht, sieht wenig. Denn wer trainiert eigentlich nicht erfolgreich weiter? Wer verletzt sich? Wer gibt auf? Wo sind Menschen mit Behinderung, ältere Protagonisten, sozial benachteiligte Gruppen? Die ARD trifft eine klare Auswahl und zeigt Training als Empowerment – aber kaum als soziale oder strukturelle Herausforderung.

ARD auf Kuschelkurs mit der Fitnessbranche?

Was fehlt, ist der wissenschaftliche Unterbau. Zwar werden einige medizinische Aspekte wie die Ausschüttung von Myokinen angesprochen, doch immer nur im Kurzformat. Keine Studien, keine kritischen Daten zur Adhärenz im Training, keine Gegenstimmen.

Die Doku lebt von der Suggestion: Wer trainiert, lebt länger, wird glücklicher, gesünder. Dass Training nachhaltig nur dann wirkt, wenn es dauerhaft in den Alltag eingebunden wird – diese Frage stellt die Sendung nicht. Ebenso wenig wird thematisiert, dass viele Studio-Verträge nicht in Motivation, sondern in Frustration münden. Kein Wort über die hohe Drop-Out-Rate, über Vertragsfallen oder die Realität der sogenannten Stillzahler. Das ist keine Lücke, das ist eine Absicht.

Die filmische Umsetzung wirkt wie eine durchgestylte Imagekampagne für ein Fitnesstraining, das nur selten so aussieht wie auf dem Bildschirm. Hochauflösende Kamerafahrten durch geräumige Studios, strahlende Gesichter beim Kreuzheben, Voice-over mit wissenschaftlicher Wärme.

Die ARD betont in ihren Pressemitteilungen zwar die Zusammenarbeit mit Sportmedizinern, doch der Erkenntnisgewinn für Zuschauerinnen und Zuschauer bleibt oberflächlich. Kritische Fragen? Keine. Realitätscheck? Fehlanzeige. Stattdessen gibt es Pathos, Empowerment, Nahaufnahme. Wer nicht hinsieht, verwechselt das leicht mit Aufklärung. In Wahrheit ist es eine perfekt getimte Prime-Time-Pumpenpropaganda.

Was fehlt: Zahlen, Tiefe, kritischer Journalismus

Die ARD-Sendung lässt eine große Chance verstreichen: Sie hätte ein realistisches Bild zeichnen können, wie viele Fitness-Anfänger nach wenigen Wochen aufgeben. Studien zeigen, dass 40 bis 65 % der Neumitglieder innerhalb der ersten sechs bis acht Monate das Training abbrechen. Mehr als 50 % trainieren maximal zwei bis drei Monate aktiv und zahlen dann oft ein Jahr oder länger weiter.

Der Begriff "Karteileiche" ist kein Spottbegriff, sondern traurige Branchenrealität. Solche Zahlen fehlen in der Doku komplett. Ebenso fehlen Hinweise auf Betreuungsmangel in Studios, unrealistische Erwartungen und die Psychologie des Scheiterns. Statt differenzierter Darstellung erhalten wir Muskelkult in Spielfilmlänge.


Und was ist die echte Trainingsrealität?

Statt sich für 24 Monate ans Studio zu ketten, gibt es Alternativen – ganz ohne Proteinshake-Vertrag und SEPA-Mandat. Wer es etwas menschlicher mag, findet in klassischen Sportvereinen oft mehr Betreuung pro Minute als in der „Betreuungspauschale“ der Ketten. Rehasportgruppen bringen Bewegung dorthin, wo Motivation sonst auf Rezept fehlt.

Im Stadtpark trifft man Calisthenics-Fans, die mit zwei Barren mehr aus ihrem Körper holen als mancher an der Beinpresse. Auch Nordic Walking, Schwimmen, Radfahren oder Vereinssport wie Judo, Handball oder Leichtathletik sind nicht nur billiger – sie haben einen sozialen Mehrwert, den kein Spiegelwand-Selfie ersetzen kann. Und ja: Auch ein Spaziergang mit Pulsuhr bringt mehr als eine Mitgliedschaft, die nur noch auf dem Konto existiert.

Was die Doku gut macht – und was sie verpasst

Die ausgewählten Porträts sind bewegend, gut produziert, visuell ansprechend. Dass Frauen im Kraftsport sichtbar gemacht werden, ist wertvoll. Doch die Auswahl ist kuratiert: Wer hart arbeitet, diszipliniert trainiert und an sich glaubt, gewinnt. Die Schattenseiten des Systems werden bewusst ausgeblendet. Wo sind die Geschichten von Mitgliedern, die nach Verletzungen aufgeben, die sich im Studio nicht wohlfühlen, die sich vom Personal allein gelassen fühlen? Wo ist die Perspektive der Überforderten, der Frustrierten, der Stillzahler? Das wäre ebenfalls ARD-Auftrag: komplexe Realität statt plakativer Heldenreise.

Hochglanz aus der WDR Hochburg statt Haltung

Gerade weil die ARD ein öffentlich-rechtlicher Sender mit Bildungsauftrag ist, darf man mehr erwarten als dramaturgisch bequeme Heldengeschichten. Wer Beiträge finanziert, darf sich auch journalistische Tiefe, Diversität und kritische Kontextualisierung wünschen. Hochglanz allein ist kein Ersatz für Haltung – schon gar nicht zur Prime Time.

Was wäre die Alternative zum Studio-Schema?

Statt mit glänzenden Studiobildern Illusionen zu verkaufen, hätte die ARD auch konkrete Alternativen zeigen können: Sportvereine mit Betreuung, Rehasport-Angebote, Outdoor-Gruppentraining, funktionelles Training im Freien, Bewegungsangebote für ältere Menschen oder Menschen mit Handicap. Auch niederschwellige Angebote wie Nordic Walking, Schwimmen, Calisthenics im Park oder Vereinssport wie Handball, Judo oder Leichtathletik spielen in der realen Bewegungslandschaft eine Rolle. Gerade in ländlichen Regionen ist das Studio eben nicht der einzig zugängliche Ort für Bewegung. Und oft nicht einmal der sinnvollste.

Die ARD liefert ein optisch beeindruckendes Format – mit emotionalem Mehrwert, aber journalistischem Defizit. Die Sendung ist gut gemeint, aber dramaturgisch zu bequem. Statt echter Wissensvermittlung bekommen wir Wohlgefühl mit Muskeltonus. Und eine Fitnessrealität, die mit dem Alltag vieler Beitragszahler wenig zu tun hat. Wer mit dieser Sendung neue Trainingsmotivation sucht, findet sie vielleicht – wer kritische Einordnung erwartet, bleibt auf der Strecke.

Fakten zur Fitnessrealität (ergänzend zur Sendung)

Studien (z.B.: Deloitte-Studie „Der deutsche Fitnessmarkt 2025) zeigen, dass rund 40 bis 60 % aller Fitnessstudio-Mitglieder innerhalb der ersten sechs bis acht Monate aussteigen. Ein erheblicher Teil davon trainiert nur zwei bis drei Monate aktiv, bevor die Motivation nachlässt. Trotzdem laufen die Verträge weiter: In Deutschland sind Laufzeiten von 12 oder 24 Monaten noch immer Standard. Der Begriff "Stillzahler" beschreibt genau dieses Phänomen. Viele zahlen länger, als sie trainieren. Internationale Quellen sprechen davon, dass bis zu 67 % der Mitglieder das Studio nicht oder kaum mehr nutzen, obwohl sie vertraglich gebunden sind. Diese Realität findet in der ARD-Sendung nicht statt – obwohl sie zur ehrlichen Einordnung dazugehören würde.

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