Glykämischer Index erklärt: Wie Kohlenhydrate deinen Blutzuckerspiegel und deine Fitness beeinflussen

Glykämischer Index erklärt: Wie Kohlenhydrate deinen Blutzuckerspiegel und deine Fitness beeinflussen

Jürgen Gießing, Professor für Sportwissenschaften an der Universität Landau

Zwischen Dinnerrolls und Dextrose

Konferenzen haben bekanntlich zwei Gesichter: die Vorträge und die Pausen. Während erstere mit PowerPoint, Korrelationen und klinischen Daten beeindrucken, sind es die informellen Gespräche am Buffet, die echte Erkenntnis bringen. Genau so ein Moment ergab sich bei einer medizinischen Tagung in Barcelona. Die Stimmung war gelöst, das Buffet tadellos, und ich fand mich zwischen der kanadischen Ärztin Dr. Dana House und dem US-amerikanischen Ernährungsbiochemiker Shawn Wells wieder – mitten in einer Diskussion über den Glykämischen Index. Zwischen Hummus und Hirse wurde es plötzlich wissenschaftlich. Und kulinarisch zugleich.

Was der Glykämische Index wirklich misst

Der Glykämische Index (GI) misst, wie schnell kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel den Blutzuckerspiegel steigen lassen. Der Wert bezieht sich dabei immer auf 50 Gramm verfügbare Kohlenhydrate eines Lebensmittels, was in der Praxis zu manch absurder Vergleichsgröße führt. So wird beispielsweise der GI von Karotten auf Basis von Mengen bestimmt, die niemand realistisch verzehrt. Dennoch ist das Prinzip klar: Je höher der GI, desto schneller wandern die Kohlenhydrate ins Blut. Das macht den Index zu einem praktischen, aber nicht immer alltagstauglichen Instrument zur Einschätzung des Blutzuckeranstiegs.

Vom Reagenzglas zur Realität

Aktuelle Studien haben gezeigt, dass der GI zwar ein wichtiger, aber nicht alleiniger Marker für die Blutzuckerreaktion ist. Entscheidend ist auch die sogenannte Glykämische Last (GL), die zusätzlich die verzehrte Menge eines Lebensmittels berücksichtigt. Eine Untersuchung der Universität Toronto aus dem Jahr 2024 kam zu dem Schluss, dass der GI ohne Kontext in der Praxis fehlleiten kann. So kann eine kleine Portion eines Lebensmittels mit hohem GI weniger Einfluss haben als eine große Portion eines vermeintlich „guten“ Kohlenhydrats mit niedrigem GI. Das klingt banal, ist aber eine fundamentale Korrektur für alle, die bisher stumpf nach Zahlen gelebt haben.

Sportler zwischen Pasta-Paranoia und Performance-Peaks

Im Spitzensport sind schnelle Kohlenhydrate nicht der Feind, sondern der Freund in der Not. Vor allem in der Regenerationsphase und während intensiver Ausdauerbelastungen helfen schnell resorbierbare Zuckerarten, die Glykogenspeicher zügig wieder aufzufüllen. Studien der Sporthochschule Köln aus dem Jahr 2023 zeigen, dass die Einnahme hoch-glykämischer Lebensmittel in einem engen Zeitfenster nach dem Training die muskuläre Wiederherstellung deutlich beschleunigt. Der Punkt ist: Die gleiche Banane kann je nach Kontext entweder zum Blutzuckerproblem oder zum regenerativen Superfood werden.

Mythen, Missverständnisse und Marmeladenbrötchen

Oft wird der Glykämische Index mit einem Gesundheitsurteil verwechselt – ein Trugschluss. Ein Lebensmittel mit niedrigem GI ist nicht automatisch „gesund“, genauso wenig wie eines mit hohem GI zwingend „ungesund“ ist. Fruktose hat beispielsweise einen sehr niedrigen GI, steht aber aufgrund neuer Studien zur Fettleberentstehung und Störung der Darmflora zunehmend in der Kritik. Auch Agavendicksaft, lange als „gesunder Zucker“ gepriesen, ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht harmloser als Haushaltszucker. Die Welt ist komplizierter als eine Liste.

Individuelle Reaktionen – der neue Maßstab?

Seit 2022 gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass die Blutzuckerantwort auf Lebensmittel nicht nur vom GI, sondern auch vom individuellen Mikrobiom, der Tageszeit  - Chrononutrition - und sogar der Stimmung abhängt. Die israelische Studie „Personalized Nutrition Project“ zeigte, dass zwei Menschen auf exakt dasselbe Lebensmittel völlig unterschiedlich reagieren können – der eine mit einem dramatischen Blutzuckeranstieg, der andere mit kaum messbarer Veränderung. Das entwertet den universellen Anspruch des GI, ohne ihn ganz nutzlos zu machen. Es ist, wie so oft: Kontext ist König.

Zwischen Wissenschaft und Alltag

Die Frage, ob Weißbrot gefährlicher ist als Blaubeeren, lässt sich also nicht allein mit dem GI beantworten. Zwar hat Weißbrot einen GI von rund 70, Blaubeeren liegen bei etwa 25. Doch wer ein Kilogramm Blaubeeren verdrückt – und glauben Sie mir, es gibt solche Menschen – wird ebenfalls eine relevante Blutzuckerantwort erleben. Der GI ist also ein Orientierungspunkt, kein Gesetz. Wer sich gesund ernähren will, muss mehr beachten als nur eine Zahl – etwa die Ballaststoffe, den Verarbeitungsgrad, die Kombination mit Fetten oder Proteinen und nicht zuletzt: den eigenen Alltag.

Der Blutzucker – ein unterschätzter Trainingspartner

Neue tragbare Glukosesensoren machen es mittlerweile möglich, die eigene Blutzuckerreaktion in Echtzeit zu beobachten. Vor allem ambitionierte Freizeitathleten greifen zu dieser Technik, um herauszufinden, welche Speisen ihnen Energie geben – und welche sie ausbremsen. Erste Daten aus einer Vergleichsstudie der TU München mit 150 Probanden im Jahr 2024 legen nahe, dass personalisierte Ernährungsempfehlungen auf Basis dieser Daten nicht nur die Blutzuckerstabilität, sondern auch die Trainingsleistung verbessern können. Der Glykämische Index wird also künftig nicht verschwinden – aber er bekommt Konkurrenz durch neue, personalisierte Modelle.

Der Index ist tot – lang lebe der Index

Am Ende unseres Tischgesprächs blickte Dr. House über ihren Dessertteller und sagte: „Wenn der GI ein Bewerbungsgespräch wäre, hätte er zwar das Diplom, aber keine Praxiserfahrung.“ Shawn Wells nickte und fügte hinzu: „Er ist ein Werkzeug – kein Orakel.“ Beide hatten recht. Wer sich mit Ernährung beschäftigt, kommt am Glykämischen Index nicht vorbei. Doch wie bei jedem Werkzeug gilt: Der Hammer ist nützlich – solange man keinen Nagel mit dem Stethoskop einschlagen will.

Fußnoten:
1. Jenkins DJ et al. (2024). The glycemic index revisited: Practical implications and updated classifications. *Nutrition Research Advances*.
2. Ziegler J et al. (2023). Carbohydrate timing and glycogen repletion in endurance athletes. *European Journal of Sports Nutrition*.
3. Golan D et al. (2022). Personalized nutrition by prediction of glycemic responses. *Cell Metabolism*.
4. Schäfer M et al. (2024). Continuous glucose monitoring in recreational athletes: insights into individual variability. *Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin*.

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